Der Bundesgerichtshof

Die Rechtsprechung - ein Spiegel der Gesellschaft

Ansprache des Präsidenten des Bundesgerichtshofs
Prof. Dr. Günter Hirsch
zum Schöffentag am 15. September 2001 in Karlsruhe

Herr Justizminister Professor Goll hat eben die Bedeutung der Schöffen für die Strafrechtspflege betont. Sie, meine Damen und Herren Schöffen, legitimieren die Gerichte, im Namen des Volkes Recht zu sprechen. Diese Legitimation ist nicht nur eine formale, Sie verhindern mit ihrer Mitwirkung an der Rechtsfindung auch, daß diese die Bodenhaftung verliert und zur Scheuklappenjustiz wird. "Wer nur das Recht versteht, versteht auch das nicht recht.", sagte schon der große Philosoph Georg Christoph Lichtenberg vor 200 Jahren - oder, um mit Luther zu sprechen: "Ein Jurist, der nicht mehr ist als ein Jurist, ist ein arm' Ding." Ihre Aufgabe ist es, zu verhindern, daß die Juristen sich im dogmatischen Dickicht verheddern und den "Wald vor lauter Bäumen nicht sehen".

Sie, meine Damen und Herren, repräsentieren innerhalb der 3. Gewalt die Gesellschaft in ihrer Subjekt- und Objektrolle. Aber: Welche Bedeutung hat denn die Gesellschaft für die Judikative? Ist diese - wie das Thema meines Vortrages dadurch signalisiert, daß es nicht mit einem Fragezeichen endet - nur Spiegel der Gesellschaft, darf oder muß sie sich darauf beschränken, gesellschaftliche Vorstellungen und Stereotypen zu reflektieren? Oder hat die Rechtsprechung nicht vielmehr auch die Aufgabe, selbst Leitbilder zu entwickeln und gesellschaftlichen Fehlentwicklungen gegen zu steuern?

Lassen Sie mich die Frage, ob das Thema nicht mit einem Fragezeichen versehen sein müßte, am Ende meiner Ausführungen wieder aufgreifen. Ihre Beantwortung setzt eine Analyse des Wesens, der Aufgaben und der Grenzen der Rechtsprechung in unserer Zeit voraus, also sozusagen der Theorie und Praxis der dritten Gewalt.

I. Was ist Rechtsprechung?

Der Müller Christian Arnold war Erbpächter der Krebsmühle zu Pommerzig, das heute in Polen direkt an der deutschen Grenze liegt. Im Jahre 1770 ließ ein Junker am Oberlauf des Baches, an dem die Mühle lag, Karpfenteiche anlegen, so daß der Bach Wasser verlor und der Betrieb der Mühle unrentabel wurde. Der Müller klagte deswegen gegen den Junker - ohne Erfolg. 1778 wurde die Mühlen-Erbpacht schließlich versteigert und der erwähnte Junker erwarb sie. Daraufhin steckte der Müller 1779 an der Bittschriftenlinde zu Potsdam dem König einen Bittbrief zu. Friedrich II. nahm sich des Anliegens an und veranlaßte eine Schadensersatzklage zugunsten des Müllers gegen den Junker. Aber sowohl das Landesgericht in Küstrin als auch - auf Rekurs des Königs hin - das Kammergericht in Berlin wiesen die Klage ab.

Daraufhin bestellte der König die drei zuständigen Richter des Kammergerichts zu sich ins Schloß, verhörte sie streng und ließ sie verhaften. Ebenso erging es vier Richtern aus Küstrin und dem Richter des Patrimonialgerichts von Pommerzig, weil - so Ihre Königliche Majestät - die Abweisung der Schadensersatzklage eine "grobe Ungerechtigkeit" sei, gegen die ein Exempel zu statuieren sei. Der König diktierte zu Protokoll:

"Wo die Justiz-Collegia nicht mit der Justiz ohne alles Ansehen der Person und des Standes gerade durch gehen, sondern die natürliche Billigkeit bei Seite setzen, so sollen sie es mit Sr.K.M. zu thun kriegen. Denn ein Justiz-Collegium, das Ungerechtigkeiten ausübt, ist gefährlicher und schlimmer, wie eine Diebesbande, vor die kann man sich schützen, aber vor Schelme, die den Mantel der Justiz gebrauchen, um ihre üblen Passiones auszuführen, vor die kann sich kein Mensch hüten. Die sind ärger, wie die größten Spitzbuben, die in der Welt sind, und meritiren eine doppelte Bestrafung."

Als das Kammergericht sich weigerte, die verhafteten Richter zu verurteilen, zog der König das Verfahren an sich, sprach zwei Richter frei und verurteilte die anderen zu einem Jahr Festungshaft - wo sie es sich übrigens recht gut gehen ließen - und zur Zahlung von Schadensersatz an den Müller Christian Arnold, der außerdem seine Mühle zurück erhielt. Die Massen jubelten ob des Gerechtigkeitssinnes ihres Königs, die Richterschaft war schockiert. Letztendlich konnte aber auch die Justiz zufrieden sein, der Fall des Müllers Arnold war nämlich Auslöser der Kodifikation des Allgemeinen Preußischen Landrechts und ein Markstein auf dem Weg zur verfaßten Unabhängigkeit der Richter.

In der Rechtsgeschichte wird der Fall des Müllers Arnold mit der Frage verbunden, ob sich Richter, die im Namen des Königs Recht sprechen, gegen diesen König stellen durften. Aktuell gefragt: Müssen Richter, die ihre Urteile "im Namen des Volkes" verkünden, den Konsens mit der öffentlichen Meinung, mit der "Gesellschaft" suchen?

Ausgangspunkt jeder modernen Lehre vom Staat und der Strukturierung seiner Macht ist die Trennung der drei Gewalten nach Legislative, Exekutive und Judikative. Nach Montesquieu, der in seinem Hauptwerk "De l'esprit des lois" 1748 die Gewaltenteilung erstmals zum Verfassungsgebot erhoben, dogmatisch begründet und gegen den Absolutismus gesetzt hat, muß der Staat in einem allseits gefährdeten Gleichgewicht gehalten werden, in dem sich die drei Gewalten gegenseitig kontrollieren und beschränken. Die Gerichte sind die Gewalt, die der Gewalt das Recht streitig macht.

Aufgabe der Gerichte ist in diesem System von check and balance die Rechtsprechung, also das Recht, das der Gesetzgeber niedergeschrieben hat, für den konkreten Fall auszusprechen. Der Richter hat Lebenssachverhalte in all ihrer Vielfalt und Unterschiedlichkeit unter abstrakt-generelle Normen zu subsumieren. Er gibt dem toten Buchstaben des Gesetzes Leben in der Rechtswirklichkeit; er wendet das Recht nicht nur an - das tut auch die Verwaltung -, sondern er verschafft ihm im Einzelfall die letzte Autorität.

Dreh- und Angelpunkt der Rechtsfindung ist die Auslegung des Gesetzes, ihr angestrebtes Ziel ist die Gerechtigkeit.

II. Pflicht zur Auslegung

Dem Richter kommt nach Montesquieu die Rolle zu, der Mund zu sein, der die Worte des Gesetzes ausspricht - nicht mehr. Es sei nicht Sache der Richter, Gesetze auszulegen, sondern nur, sie anzuwenden - so ein Zeitgenosse von Montesquieu aus Italien, Cesare Beccaria. Nach ihm ist es noch immer besser, einen absolut regierenden Landesherrn zu haben, als wenn der Bürger als Sklave auslegungswütiger Richter einer Vielzahl "kleiner Tyrannen und Unterobrigkeiten" ausgeliefert ist. Unklarheiten des Wortlauts eines Gesetzes müsse der Gesetzgeber beseitigen, nicht der Richter.

Kaum waren somit die Richter dank der Aufklärung in den Stand einer eigenen Staatsgewalt erhoben, bestritt man ihnen im Namen derselben Staatsphilosophie ihr bisheriges Machtmittel und Handwerkszeug: die Gesetzesinterpretation.

Dies ist Geschichte, die jedoch immer noch in unsere Zeit hineinwirkt. So ist z.B. die enge Bindung an den Wortlaut einer Norm im angelsächsischen Gerichtssystem Ausdruck des Respekts der dritten Gewalt vor dem Gesetzgeber als obersten Souverän. In Diktaturen dagegen - so auch in der ehemaligen DDR - war die strikte Bindung der Richter an den Buchstaben der Gesetze, die von einer zentral gesteuerten Gesetzgebungsmaschinerie laufend auf Linie gehalten wurde und Maßnahmecharakter hatte, Ausdruck der Angst vor Selbständigkeit, Eigenverantwortung und Unabhängigkeit. In der Bundesrepublik haben sich die Richter - mit Billigung des Bundesverfassungsgerichts - weitreichende Auslegungskompetenzen gesichert.

Gesetzesauslegung ist dem Richter nicht nur erlaubt, sondern geboten. Denn von Naturgesetzen unterscheiden sich staatliche Gesetze durch ihre prinzipielle Beliebigkeit. Für Juristen ist eben zwei und zwei nicht unbedingt vier, sondern eine Größe innerhalb eines Auslegungsspielraumes, der von drei einhalb bis vier einhalb reicht. Dies macht den Umgang mit ihnen für Nichtjuristen so schwierig.

Der Richter hat somit innerhalb des Interpretationsrahmens durch Auslegung die normative Aussage zu finden, die den konkreten Fall löst. Hierfür steht ihm eine gefestigte Methodik zur Verfügung, die mit den Stichworten "Wortlaut der Norm", "Wille des Gesetzgebers" und "Teleologie" angedeutet sei. Noch immer gilt der klassische Ansatz von Savigny, wonach Auslegung "die Rekonstruktion des klaren oder unklaren Gedankens ist, der im Gesetz angesprochen wird, insofern er aus dem Gesetz erkennbar ist."

Die Auslegung des abstrakten Gesetzeswortlautes im Hinblick auf die Vielgestaltigkeit des Lebens ist eine der Kernaufgaben des Richters und nährt den Berufsstand der Kommentarschreiber. Um nur ein Beispiel zu geben: Der Laie meint, es sei völlig klar, was ein Diebstahl ist. Nach dem Gesetz setzt er zweierlei voraus: Die Wegnahme einer fremden beweglichen Sache und die Absicht, diese Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen. Aber: Was ist eine Sache? Ist Elektrizität eine Sache? Nach dem Reichsgericht nicht - deshalb wurde ein spezielles Gesetz erlassen. Was ist mit computergesicherten Informationen ("software"), mit der unberechtigten Benutzung von Computern (sog. "Zeitdiebstahl"), mit dem unberechtigten Benutzen eines Fahrrades? Oder die berühmte Prüfungsfrage: Ist es Diebstahl, wenn jemand an Bord eines Schiffes aus Neidgefühlen heraus einer Dame den Schmuck vom Hals nimmt, und ihn ins Meer wirft, ihn sich also nicht zueignen will? Allein der kurze Tatbestand des Diebstahls wirft hunderte von Auslegungsfragen auf.

Ein guter Richter zeichnet sich nicht so sehr dadurch aus, daß er viele Paragraphen kennt, sondern dadurch, daß er dem geschriebenen Recht durch Auslegung Leben verleiht in der Rechtswirklichkeit mit dem Ziel, Gerechtigkeit walten zu lassen.

III. Kompetenz zur Rechtsfortbildung

Die Pflicht des Richters zur Auslegung der Gesetze ruht auf festem Fundament; dies gilt nicht für die Fortbildung des Rechts. Denn hier betritt man die verminte Grenzzone, die die dritte Gewalt von der ersten, der Gesetzgebung scheidet. Der Richter hat die Prärogative des Gesetzgebers zu respektieren, er darf sich nicht zum Ersatz- oder Obergesetzgeber aufschwingen. Er hat das gesetzte Recht anzuwenden und bei Bedarf zu diesem Zweck auszulegen, nicht aber Recht zu setzen.

Aber: Das Gesetz ist starr, es ist den Tatsachen und Vorstellungen zum Zeitpunkt seines Erlasses verhaftet, das Leben aber fließt, panta rhei (Heraklit), die von der Justiz zu entscheidenden Lebenssachverhalte entwickeln sich in vielen Bereichen immer weiter weg vom Vorstellungshorizont des Gesetzgebers.

Was soll nun ein Richter tun, wenn er Lücken im Gesetz feststellt oder die geschriebenen Regeln für die Lebenswirklichkeit nicht mehr passen? Was tun, wenn etwa das Gesetz Schriftform fordert, der Rechtsverkehr aber längst elektronisch abgewickelt wird? Was tun, wenn eine Ehefrau nach dem Tode ihres Mannes die Implantation ihrer konservierten befruchteten Eizelle verlangt? Was tun, wenn die Medizintechnik die ehemals klaren Grenzen zwischen Leben und Tod verwischen kann?

Die Aufgabe des Richters, Recht zu sprechen, verbietet ihm grundsätzlich, die Entscheidung einer Streitfrage zu verweigern. Dieses insbesondere im französischen Recht entwickelte Verbot der Rechtsverweigerung ("déni de justice") gibt dem Richter die Kompetenz, das Recht erforderlichenfalls fortzuentwickeln und Lücken zu füllen, etwa durch Analogien.

Diese Kompetenz versteht sich nicht von selbst. Scheint es doch auf den ersten Blick durchaus paradox, daß Richter, die dem gesetzten Recht unterworfen sind, zugleich die Kompetenz haben sollen, dieses Recht fortzubilden und damit in gewissem Sinne selbst die Normen zu schaffen, an die sie gebunden sind. Diesen Zwiespalt brachte der Richter am US-Supreme Court Hughes treffend auf den Punkt: "We, the juges, we are under the constitution, but the constitution is, what the juges say, it is."

Der Richter war - entgegen der Forderung von Montesquieu - in Europa niemals lediglich "la bouche qui prononce les paroles de la loi" (der Mund, der die Worte des Gesetzes verkündet). Im kontinentaleuropäischen Recht ist deshalb die Kompetenz des Richters zur Fortentwicklung des geschriebenen Rechts feste Praxis. Anders z.B. im angelsächsischen Recht. Man erzählt, daß bei einer Änderung des amerikanischen Rechts durch ein Versehen die in allen Rechtsordnungen enthaltene Vorschrift gestrichen wurde, nach der der Mörder nicht Erbe seines Opfers sein kann. Als ein wegen Mordes an seinen Eltern verurteilter Mann das Erbe seiner Eltern forderte, stellte der Richter zwar die Gesetzeslücke fest, sah jedoch keine Möglichkeit, sich darüber hinwegzusetzen und sprach dem Mörder das Erbe zu. Ein deutscher Richter hätte sicherlich kein großes Problem darin gesehen, diese planwidrige Lücke im Gesetz durch Richterrecht zu füllen und den Mörder für erbunwürdig zu erklären.

Damit darf jedoch nicht die Türe geöffnet werden zu einer Diktatur der Richter. Man mag in Einzelfällen trefflich streiten, ob ein Rechtsspruch die Grenze vom zulässigen Richterrecht zu unzulässiger Rechtsschöpfung überschritten ist. Wichtig ist, daß Richter sensibel sind für diese Grenzproblematik und sich bewußt sind, daß ihre Legitimation schwindet, je weiter sie sich vom Buchstaben des Gesetzes entfernen.

IV. Rechtsprechung im europäischen Integrationsprozeß

Stellt man die Frage nach den Wechselwirkungen zwischen der Gesellschaft und der Rechtsprechung, kann die europäische Dimension nicht unerwähnt bleiben. Europa hat zwar eine eigene Jurisdiktion, den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg, in den jeder Mitgliedstaat einen Richter entsendet. Da jedoch Europarecht von den nationalen Behörden und Gerichten unmittelbar anzuwenden ist und im Kollisionsfall grundsätzlich Vorrang vor nationalem Recht hat, ist jeder nationale Richter auch Gemeinschaftsrichter. Bedenkt man, daß inzwischen mehr als die Hälfte der nationalen Gesetze unmittelbar oder mittelbar auf Europarecht beruht - im Bereich des Wirtschaftsrechts sind dies gar 80 % -, wird deutlich, daß nationale Richter in großem Umfang Europarecht auslegen und anwenden, häufig indirekt und ohne zu wissen, daß etwa eine nationale Regelung, die sie anwenden, lediglich eine europarechtliche Richtlinie umsetzt.

Der Richter ist also zwar nach wie vor nationaler Hoheitsträger, er ist jedoch nicht mehr nur dem nationalen Recht verpflichtet, sondern auch der supranationalen, autonomen Rechtsordnung der Europäischen Union.

Wir sollten uns deutlich vor Augen führen, daß die Zeiten vorbei sind, in denen die Rechtsprechung als Spiegelbild einer geschlossenen, national homogenen Gesellschaft diskutiert werden kann. Der klassische, vollsouveräne Staat des 19. und 20. Jahrhunderts hat in Europa abgedankt - wie übrigens die Reaktion der europäischen Staaten auf die Bildung einer demokratisch legitimierten Regierung in Österreich überdeutlich zeigt. Selbst Kernbereiche staatlicher Souveränität wie etwa die Organisation der Streitkräfte oder die Struktur der Gesundheits- und Sozialsysteme sind europarechtlich kontaminiert.

Konrad Hesse, der Nestor der deutschen Staatsrechtswissenschaft, schrieb der rückwärtsgewandten deutschen Staatsrechtslehre vor wenigen Monaten mit analytischer Präzision ins Stammbuch, wie sehr sich die traditionellen Kategorien von Staat, Souveränität und Kompetenzen auf unserem Kontinent geändert haben. Nach Konrad Hesse hat die deutsche Staatsrechtslehre diese grundstürzenden Veränderungen noch nicht verinnerlicht, sie lebe immer noch "von dem Gedankengut einer Welt, die nicht mehr die unsere ist und die, wie wir immer deutlicher sehen, in den tiefen Wandlungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts ihren Untergang gefunden hat. Über ihre Grundlagen, bisher als gesichert geltende Bestandteile der Staats- und Verfassungslehre, ist die Geschichte hinweggegangen." Dies mag man begrüßen oder bedauern - bestreiten kann man es schwerlich.

Die Europäische Gemeinschaft befindet sich in einem dynamischen Integrationsprozeß auf der Achse zwischen einem bloßen völkerrechtlichen Staatenbund und einem souveränen Bundesstaat. Sie kann nicht, noch nicht definitiv staats- und völkerrechtlich definiert werden, ihr Endziel, ihre "Finalität" ist offen.

Aber daß sie mehr ist als eine Art gesteigerte Freihandelszone, dies ist Realität. Ob dies nun bedeutet, daß die Europäische Gemeinschaft bereits eigene (spezifische) oder nur geliehene Souveränität hat - diese Diskussion unter deutschen Verfassungsrechtlern erinnert an jenen deutschen Professor, der sein Lebenswerk dem Nachweis widmete, daß nicht Homer die Odyssee und Ilias geschrieben hat, sondern ein anderer, der zur gleichen Zeit lebte und zufällig auch Homer hieß.

In diesem Prozeß hat sich auch die Rolle der Richter in Europa gewandelt; die nationale Gerichtsbarkeit wurde "europäisiert" und in ein Kooperationsverhältnis zum Europäischen Gerichtshof gestellt. Sollte die Rechtsprechung ein Spiegelbild der Gesellschaft sein - und sie ist es zumindest teilweise -, dann kann sich in ihr nicht mehr nur eine nationale Gesellschaft spiegeln, sondern eine vielgestaltige, vielsprachige mit unterschiedlichen Interessen, historischen Erfahrungen und kulturellen Wurzeln. Der Spiegel hat viele Facetten bekommen. Er reflektiert Traditionen und Interessen aus vielen Ländern und Regionen zwischen Sizilien und dem Nordkap, zwischen den überseeischen Gebieten Frankreichs und bald Warschau.

Was dies für die Richter in Europa bedeutet, soll am Beispiel der Grundrechte beleuchtet werden:

Ein Jahrtausend lang war die Heiligkeit der alten Institutionen, insbesondere von Kirche und Reich, mit ihrem von Gott abgeleiteten Verbindlichkeitsanspruch die absolute Autorität. Staatliche Gesetzgebung waren ihren Dogmen verpflichtet; sie zielte auf Verbote und Gebote, getreu ihrem Archetyp: Die 10 Gebote gaben den Menschen eben keine Rechte.

Als diese Leitfunktion des kirchlichen und staatlichen Absolutismus mit den Ideen der französischen Revolution unterging, wurde das Vakuum gefüllt durch neue, profane Dogmen. Die Menschenrechte waren die zwischen Glaubenslehre und Gesetzgebung angesiedelte Frucht der Aufklärung.

Dem Wechsel der legitimationsspendenden Autoritäten entsprechend wandelte sich die Zielrichtung der Grundrechte. Waren die Gebote der Kirche und die ihnen dienenden weltliche Gesetze auf Unterwerfung und Gehorsam und damit letztlich auf Machterhalt der Institution gerichtet, schützten die neuen Rechte die Bürger vor und gegen den Staat . Die "natürlichen, unveräußerlichen und heiligen Rechte des Menschen" (französische Verfassung von 1791), also die Rechte, die seine Würde, seine Freiheit und seine Gleichheit garantieren, waren fast 200 Jahre lang Abwehrrechte gegen die öffentliche Gewalt. So haben sie auch die Väter des Grundgesetzes verstanden, als sie nach der Katastrophe des Dritten Reiches einen der modernsten Grundrechtskataloge der Welt formulierten.

Mit dieser Verfassungslage ist der deutsche Richter vertraut. Sie ist juristisch, politisch und gesellschaftlich akzeptiert und reflektiert sich in ständiger Rechtsprechung. Nun wurde aber auf dem europäischen Gipfel in Nizza im Dezember 2000 eine europäische Charta der Grundrechte proklamiert. Diese Charta ist zwar noch nicht formell Bestandteil des primären Gemeinschaftsrechts, da in Nizza die strategische Kraft der nationalen Europapolitiken nicht für die Schaffung eines verbindlichen Grundrechtskatalogs reichte. Die Charta enthält jedoch den Bestand an Grundrechten, die auf der Grundlage übereinstimmender Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten die europäische Rechtskultur prägen und vom Europäischen Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung bereits angewendet werden.

Die europäischen Grundrechte decken sich in ihrem Kernbereich im wesentlichen mit den deutschen, sie weichen jedoch auch z.T. ab, insbesondere soweit sie unter der Überschrift "Solidarität" soziale Grundrechte und bloße Staatsziele, die keine subjektiven Rechte geben, vermischen.

Erwartet man vom nationalen Richter, in seinen Urteilen den gesellschaftlichen Konsens widerzuspiegeln, liegen seine Schwierigkeiten bei der Rezeption europäischer Grundrechte auf der Hand. Denn die Suche nach dem rechtsethischen oder gesellschaftlichen Leitbild hinter einzelnen dieser Grundrechte wird häufig ein uneinheitliches Bild geben. So wissen wir z. B. recht genau, welche Konsequenz das deutsche Grundrecht auf Selbstbestimmung für die ärztliche Aufklärungspflicht hat oder wo die Grenzen von die Berufsausübung beschränkenden Regelungen verlaufen. Wir kennen das Verbot der aktiven Sterbehilfe und der Forschung mit embryonalen Stammzellen. Aber: Wie ist die Rechts- und Verfassungslage in anderen Mitgliedstaaten? Und wie sind die entsprechenden autonomen europäischen Grundrechte der Menschenwürde, der Selbstbestimmung, der Freiheit der Berufsausübung zu verstehen?

Die unterschiedlichen kulturellen Prägungen der Menschen in Europa hat sich im Verfassungskonvent, der die Grundrechts-Charta ausgearbeitet hat, schlaglichtartig bei der Diskussion der Meinungsfreiheit gezeigt. Die Spanier wollten eine ausdrückliche Festlegung, daß die Freiheit der Meinungsäußerung dort endet, wo die geäußerte Meinung die Ehre eines anderen verletzt. Die Skandinavier dagegen konnten mit der "Ehre" als Rechtsbegriff nichts anfangen.

V. Schlußbemerkung

Diese Probleme führen zurück zu der eingangs zurückgestellten Frage, ob die Rechtsprechung Spiegel der Gesellschaft ist oder nicht.

Sieht man als Gesellschaft den Souverän, der im Sinne des berühmten Hauptwerks von Jean Jacques Rousseau (1762) "Der Gesellschaftsvertrag" den Staat konstituiert, so ist das Gesetz Spiegel des volonté général. Die Richter haben den in Gesetze geronnenen Willen des obersten Souverän zu effektuieren und dem leblosen Buchstaben des Gesetzes Wirkung in der Fülle der Lebenssachverhalte zu geben.

Dies geht, wie festgestellt, nicht ohne Auslegung und Rechtsfortbildung. In diesem Rahmen der Gesetzesinterpretation setzt der Richter Recht im materiellen Sinne und durchbricht damit in legitimer Weise die Gewaltenteilung.

Die Auslegung und Fortbildung des Rechts ist der Bereich, in dem der Richter Navigationshilfe braucht. Dieser Leitstern kann nicht kurzschlüssig die vox populi, der "Stammtisch" sein. Nicht Populismus ist Sache der Richter, sondern Realisierung der verfaßten Leitbilder der Gesellschaft, verfaßt im Grundgesetz, aber auch in ethischen Parametern. Nicht von ungefähr ist der Richter nicht nur an das Gesetz gebunden, sondern an Gesetz und Recht. So wie eine Kathedrale mehr ist als die Summe ihrer Steine und eine Symphonie mehr als die Summe ihrer Töne, ist das Recht mehr als die Summe der Paragraphen. Es ist die Idee des Rechts, die Ambition der Gerechtigkeit, die Gesetze legitimieren.

In diesem Sinne hat die Rechtsprechung Spiegel der Gesellschaft zu sein, und zwar der Gesellschaft, wie sie sein soll, nicht unbedingt der Gesellschaft, wie sie ist.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Mit dieser Feststellung wollte ich eigentlich meine Ausführungen schließen. Aber man kann heute nicht über die hehren zivilisatorischen Errungenschaften der Menschenrechte und der Gerechtigkeit sprechen, ohne an die tausende von Toten zu denken, die vor fünf Tagen dem Terror in den Vereinigten Staaten zum Opfer gefallen sind. Wir mußten eine neue Dimension des Hasses und des Vernichtungswillens erleben. Und von nun an werden wir mit der Angst leben müssen, daß Fanatiker, Amokläufer oder Selbstmörder, die ein Fanal setzen wollen, Flugzeuge als Waffen gegen ungeschützte und nicht zu schützende Gebäude, Plätze oder Sportstadien einsetzen. Das Entsetzen über das, was Menschen Menschen antun können, wird uns nicht mehr verlassen. Eine Spirale des Tötens wird - so ist zu befürchten - in Gang kommen. Wir können nichts anderes tun, als unsere Pflicht als Richter und Schöffen.