50 Jahre Bundesgerichtshof
Ansprache des Präsidenten des Bundesgerichtshofs
Prof. Dr. Günter Hirsch
aus Anlaß des 50. Jahrestages der Errichtung des Bundesgerichtshofs am 6. Oktober 2000
Sehr verehrte Frau Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts,
sehr verehrte Frau Bundesministerin der Justiz,
sehr geehrte Damen und Herren!
Der Bundesgerichtshof wurde in den Reden und Grußworten geehrt und gewürdigt. Dafür sage ich Dank.
Erlauben Sie mir zum Schluß dieser Festveranstaltung, daß ich dem einige aktuelle Gedanken aus der Binnensicht des Gerichtshofs hinzufüge.
Seit einigen Jahren häufen sich rechtsextremistische Straftaten, von Hakenkreuz-Schmiereien, über die Anpöbelung, Beleidigung und Verletzung von ausländischen Mitbürgern bis hin zu Mord und Totschlag. Die Politik und die Medien nehmen diese Vorfälle, ihre Ursachen und die politischen und gesellschaftlichen Hintergründe mit Recht sehr, sehr ernst. Jüdische und ausländische Mitbürger haben Angst. Das Ausland blickt mit Sorge auf uns.
Der Rechtsextremismus, der sich gegen Ausländer in Deutschland richtet, aber auch in dumpfer Brutalität gegen Minderheiten und gegen Außenseiter der Gesellschaft, gegen Obdachlose, gegen Behinderte, gegen Schwächere, schafft ein Klima der Angst. Er bedroht nicht nur Menschen, er bedroht unser freiheitliches Gesellschaftsmodell. Rechtsextremistische Gewalt will auch die Allgemeinheit einschüchtern, sie verletzt die Opfer, darüber hinaus aber auch die Würde der potentiell Betroffenen, sie verhöhnt das Recht, sie ist eine Schande für unser Land und untergräbt letztlich demokratische Grundwerte.
In dieser Situation sind alle - dies braucht nicht betont zu werden - Privatpersonen, Organisationen und der Staat mit all seinen Möglichkeiten aufgerufen, das Ihre zur Bekämpfung dieser Gewalt und ihrer Ursachen zu leisten. Dies zielt auf das Erziehungs- und Bildungssystem, dies umfaßt die Schaffung beruflicher Perspektiven für Jugendliche und dies verlangt Bürgercourage und ein Klima der Solidarität in Deutschland.
Aber, meine Damen und Herren, auch die besten Gesetze können weder Ideologie noch Dummheit noch Kriminalität beseitigen und Toleranz erzwingen. Es sind die Sicherheitsbehörden und die Justiz, die an vorderster Front, repressiv und präventiv, den Staat und jeden einzelnen Bürger zu schützen haben. Es sind die Polizeibeamten, die Staatsanwälte, die Richter, die gefordert sind, die Hoheit des Staates und sein Gewaltmonopol zugleich zu personifizieren und mit Härte durchzusetzen. Gewaltsame politische Einschüchterung von Mitbürgern ist eine zentrale Gefahr für die Demokratie und ist nicht mit Randalieren im Bierzelt gleichzusetzen, sondern eher mit dem Versuch eines Umsturzes unserer Ordnung.
Die Justiz ist sich dieser Dimension des Problems rechtsradikaler Gewalt wohl bewußt. Sie reagiert konsequent, angemessen und rechtsstaatlich. Gerade die Strafe als unmittelbarster und stärkster Ausdruck der Hoheitsgewalt des Staates ist jedoch besonders deutlich auf die Respektierung ihrer Zwecke und der Verfahrensgarantien verpflichtet. Über seine persönliche Schuld hinaus darf kein Straftäter, auch kein rechtsradikaler, zum Objekt gemacht werden. Der Strafrichter hat keine Exempel zu statuieren. Jedoch gehört die Generalprävention, die Abschreckung potentieller Täter und die Verteidigung der Rechtsordnung, zu den legitimen Strafzwecken und den anerkannten Strafzumessungsgründen.
Es bedarf - so meine ich - keiner Beweise, daß die deutsche Strafrechtspflege die Besonderheit rechtsradikaler Straftaten erkannt hat und ihr Rechnung trägt. Die Anwesenheit höchstrangiger Repräsentanten der Justiz in Europa gibt mir jedoch Anlaß, dies doch mit wenigen Belegen zu konkretisieren:
So stellte der Bundesgerichtshof etwa fest, daß auch dann, wenn als Motiv für die Tötung eines ausländischen Mitbürgers "Ausländerhaß" nicht eindeutig erwiesen werden könne, niedrige Beweggründe im Sinne des Mordtatbestandes gleichwohl in Betracht kommen, wenn die Tat in einem rechtsradikalen Umfeld aus Imponiergehabe erfolgt ist.
Oder: Bei einem Täter, der einen Molotowcocktail gegen ein Asylbewerberheim schleudert, ohne daß größerer Schaden entstanden ist, setzt ein Tötungsvorsatz nicht voraus, daß er den Tod der Heimbewohner aufgrund rassistischen, nationalsozialistischen Gedankengutes wünschte. Vielmehr reicht die äußerst gefährliche Gewalthandlung als Indiz für einen mittelbaren Tötungsvorsatz ebenso aus, wie ausländerfeindliche Gesinnung.
Geht es um die Verbreitung volksverhetzender NS-Parolen und Hakenkreuzschmierereien, so verbietet nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Verteidigung der Rechtsordnung in der Regel die Aussetzung der Strafe zur Bewährung. Denn im Hinblick auf den bedrohlich zunehmenden Rechtsradikalismus in Deutschland würde eine Bewährungsstrafe das Vertrauen der Bevölkerung in die Wirksamkeit der Strafrechtspflege schwinden lassen und von der Bevölkerung als ungerechtfertigte Nachgiebigkeit und unsicheres Zurückweichen vor dem Rechtsradikalismus verstanden werden.
Bei der strafrechtlichen Verfolgung politisch oder rassistisch motivierter Straftaten gilt im besonderen Maße, daß schnelles Recht gutes Recht ist. Der Bundespräsident hat dies vor kurzem zu Recht angemahnt. Das Verfahren von Dessau ist ein Beleg, daß die Justiz schnell und konsequent auf eindeutige, schwere Straftaten reagieren kann. Der grauenhafte Mord an dem Mocambiquaner Alberto Adriano am 11. Juni dieses Jahres wurde – nachdem der Generalbundesanwalt das Verfahren an sich gezogen hatte – bereits 2 ½ Monate später durch die Verhängung einer lebenslanger Freiheitsstrafe und je 9 Jahre Jugendstrafe geahndet.
Liberal ist nicht nur, wer Freiheit läßt, sondern wer Freiheit schützt. Eine friedliche Gesellschaft braucht eine starke Justiz. Die Justiz ihrerseits braucht die Solidarität der Politik und der Gesellschaft. Was sie nicht braucht, sind Einmischung von außen und populistische Ratschläge. Die richterliche Unabhängigkeit ist tangiert, wenn etwa ein Landes-Innenminister – wie geschehen – dadurch psychologischen Druck auf Richter erzeugt, daß er im Hinblick auf ein anstehendes Verfahren gegen rechtsradikale Straftäter verkündet, für diese Täter könne es keine mildernden Umstände geben. Dies nach Durchführung der Hauptverhandlung festzustellen, ist allein Sache der Richter.
Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Die Justiz kann sich nicht selbstzufrieden zurücklehnen und sagen, sie macht alles richtig. Aber sie kann das gesellschaftliche Problem des Rechtsextremismus nicht lösen, sie kann nicht seine Ursachen und Wurzeln bekämpfen, sie kann immer nur im letzten Akt reagieren. Aber ich kann ihnen versichern, und ich fühle mich legitimiert, dies für die Justiz insgesamt zu sagen, daß die Richter in Deutschland sich der Verantwortung bewußt sind, die ihnen im Kampf gegen rechtsextremistische Straftäter zukommt. Und wir sind uns auch bewußt, daß Rechtsextremismus in Deutschland auf dem Hintergrund unserer Geschichte eine spezifische Bedeutung hat. Deshalb gibt der 50. Jahrestag der Errichtung des Bundesgerichtshofs auch Anlaß, sich seiner Geschichte zu erinnern, der guten, wie der schrecklichen.
Als der Gerichtshof zum 1. Oktober 1950 errichtet wurde, war dies zwar ein Neubeginn, aber auch eine Fortsetzung oberstgerichtlicher Tradition, die sich auch in der Übernahme nicht weniger Richter des Reichsgerichts in den Dienst des Bundesgerichtshofs manifestierte. Der Bundesgerichtshof stand in der Nachfolge des Reichsgerichts und fühlte sich, wie der erste Präsident des Bundesgerichtshofs ausdrücklich betonte, diesem Vorgänger auch verpflichtet. Das Reichsgericht, errichtet als Garant der Rechtseinheit und der Rechtsstaatlichkeit in Deutschland, war in der Tat ein Hort hoher richterlicher Kunst und Ethik.
Aber auch das Reichsgericht blieb keine Exklave der Gerechtigkeit und politischer Neutralität im nationalsozialistischen Unrechtsstaat. Zwar war es nicht zuletzt die weitgehende Unbeugsamkeit und Unabhängigkeit der ordentlichen Justiz, die Hitler dazu veranlaßt hatte, Sondergerichte und den Volksgerichtshof als reine Terrorinstrumente zu errichten. Aber es gab Zugeständnisse der ordentlichen Justiz an die Machthaber, es gab Unterwürfigkeit und es gab Justizunrecht auch beim Reichsgericht bis hin zu dem Todesurteil, das das Reichsgericht unter persönlicher Leitung seines letzten Präsidenten Erwin Bumke gegen Ewald Schlitt 1942 verhängte, ein Urteil, das nichts anderes war als ein Justizmord.
50.000 Todesurteile durch deutsche Gerichte in den 12 Jahren des Nazi-Regimes gehören auch zu unserer Geschichte als Richter in Deutschland. Wir dürfen dies nicht allein in die Geschichtsbücher abdrängen. Geschichtsbücher sind das geschriebene Gedächtnis eines Volkes, das ist wahr. Aber: Das Gedächtnis hat eine kalte Seele, die Erinnerung aber eine fühlende. Wo sich Geschichte auf Daten und Zahlen beschränkt und dem Sich-Erinnern entzieht, verliert sie jeden Wert für die Gestaltung der Gegenwart und der Zukunft. Deshalb sollten wir uns auch der dunklen Seite der Geschichte des obersten deutschen Zivil- und Strafgerichts heute und hier erinnern. Als Erbe des Reichsgerichts trägt der Bundesgerichtshof auch eine Erblast.
Das Leid der Opfer ist jedoch nicht mit der kleinen Münze wohlfeilen Bedauerns oder einer billigen Entschuldigung für Verbrechen einer früheren Richtergeneration abzugelten. Ich empfinde persönliche Betroffenheit und Trauer. Und ich empfinde gerade heute das Bedürfnis, als Lehre aus der Vergangenheit die Verpflichtung der Richter ganz besonders zu betonen, die Schwachen zu schützen und das Recht zu verteidigen.
Die Errichtung des Bundesgerichtshofs war vor 50 Jahren in der noch jungen Republik mit großen Hoffnungen und Erwartungen verbunden. Die 3. Gewalt im Staat wurde dem gerecht. Der Bundesgerichtshof sah seine Aufgabe von Anfang an nicht nur in der technisch perfekten Anwendung des Rechts, sondern auch in der an der Idee der Gerechtigkeit ausgerichteten Fortbildung des Rechts. Die Richterinnen und Richter haben, je zu ihrer Zeit, ihre Bindung an Recht und Gesetz ernst genommen und die Doppelfunktion des Rechts, nämlich objektive Lebensordnung zu sein und zugleich subjektiven Schutz zu geben, mit Leben erfüllt. Ein Revisionsgericht darf das Recht in seiner Abstraktheit und die Einzelfallgerechtigkeit nicht antagonistisch begreifen. Unrecht, das einem Einzelnen geschieht, ist eine Bedrohung für alle. Der Bundesgerichtshof war sich der Gefahr, daß im mächtigen Schatten des Gesetzes das Individuum seine Konturen verliert, immer bewußt. Es ist richtig, daß die Robe den Richter nicht zum Herrn des Rechts, sondern zu seinem Diener macht. Richtig ist aber auch, daß das Recht denen, die ihm unterworfen sind, zu dienen hat, und niemandem sonst.
Fünfzig Jahre ist ein schönes Alter. Die Weisheit des Alters beginnt Platz zu greifen, ohne daß der Tatendrang der Jugend bereits völlig erloschen wäre. Der Bundesgerichtshof hat sich wohl etabliert, er genießt allgemeine Reputation und Respekt und er hat seine größte Bewährungsprobe, die juristische Aufarbeitung der deutschen Wiedervereinigung, bestanden. Davor, nun ohne neue Herausforderungen nur noch sklerotisch auf eingefahrenem Gleis zu rollen, wird ihn der rührige Gesetzgeber hindern. Daß dieser bei seinen Reformen die Bedürfnisse der Praxis ausreichend berücksichtigt, ist zwar ein frommer, aber nichtsdestoweniger berechtigter Wunsch.
Lassen Sie mich schließen mit einem Dank.
Ich danke
- den Richterinnen und Richtern des Bundesgerichtshofs, die die Residenz des Rechts zum Hort der Rechtsstaatlichkeit gemacht haben, in Gegenwart und Vergangenheit
- den wissenschaftlichen Mitarbeitern, die im Hintergrund, aber durchaus entscheidend an der Rechtsprechung mitwirken und
- allen Bediensteten des Hauses.
Insbesondere gilt es, den Autoren und Herausgebern der Festschriften sowie den Rednern des heutigen Festaktes Dank zu sagen, die uns mit ihrem Lob fast beschämt haben, sowie dem "Ensemble Fidelitas" aus Karlsruhe, das uns so schön in die Welt der Musik entführt hat.
In erster Linie aber gilt mein herzlicher Dank Ihnen allen, meine Damen und Herren. Sie haben mit Ihrer Anwesenheit dem Bundesgerichtshof hohe Ehre erwiesen.