100. Geburtstag von Hans von Dohnanyi
Ansprache des Präsidenten des Bundesgerichtshofs Prof. Dr. Günter Hirsch beim Festakt aus Anlaß des 100. Geburtstags von Hans von Dohnanyi am 8. März 2002
Der Bundesgerichtshof und mit ihm die gesamte Justiz haben besonderen Anlaß, Hans von Dohnanyi zu gedenken und zu ehren. Dies nicht nur deshalb, weil er als Richter einer unserer Vorgänger war. Vielmehr konfrontiert die Person und der Fall Hans von Dohnanyi die Justiz und damit die Richterschaft in Deutschland mit ihrer Vergangenheit und deren Bewältigung.
Während der Zeit eines Menschenlebens war die Justiz in Deutschland in zwei Unrechtssysteme verstrickt und sah sich zweimal vor die Aufgabe gestellt, Justizunrecht aufzuarbeiten. Hans von Dohnanyi steht für das Bemühen und für die Ehre der deutschen Justiz, er war aber auch ihr Opfer.
Hans von Dohnanyi war Richter am Reichsgericht, dem Gericht, in dessen Tradition sich der Bundesgerichtshof von Anfang an gesehen hat. Er wurde von Verbrechern, die sich Richter nannten, ermordet. Die Täter wurden letztendlich durch ein Urteil des Bundesgerichtshofs 1956 von diesem Justizmord freigesprochen mit einer Begründung, die zur Folge hatte, daß kein einziger der Richter, die während der Nazi-Herrschaft 50.000 Todesurteile gefällte hatten, zur Rechenschaft gezogen wurde. Von diesem Dohnanyi-Urteil hat sich der Bundesgerichtshof 1995 ausdrücklich distanziert in einem Verfahren, in dem es um Justizunrecht in der ehemaligen DDR ging.
Diese wenigen Sätze zeigen, daß man die Rolle der Justiz in Unrechtssystemen und bei der Aufarbeitung von Justizunrecht nicht ausblenden kann, wenn man des Widerstandskämpfers Hans von Dohnanyi gedenkt.
Die Richterschaft im Dritten Reich bestand ganz überwiegend aus "biederen Juristen aus der Kaiserzeit", um Golo Mann zu zitieren. Der Schritt vom Deutschnationalen zum Nationalsozialistischen fiel vielen nicht besonders schwer, insbesondere unter der Drohung der Entlassung bei fehlender Regimetreue. Die Mehrheit der Richter beugte nicht das Recht, aber viele beugten sich einem formellen Recht, auch wenn es materiell Unrecht war. Die Gefährlichkeit des Unrechtsstaates liegt ja nicht so sehr darin, daß er Richter frontal veranlaßt, das Recht zu brechen, sondern darin, daß er Unrecht in Gesetzesform gießt und darauf setzt, daß Richter nicht mehr nach dem Recht fragen, wenn sie ein Gesetz zur Hand haben. Mit dem Ermächtigungsgesetz und mit Notverordnungen wurde die Weimarer Republik legalistisch zerstört; der Weg zum Terror war mit Gesetzen gepflastert.
Letzte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Regimes wurden bei vielen beseitigt durch führende Vertreter der Rechtswissenschaft. Erwähnt sei der angesehene Staatsrechtslehrer Carl Schmitt, der zum Totengräber der Weimarer Verfassung und zum "Kronjuristen des Dritten Reiches" wurde. Mit seinem Aufsatz "Der Führer schützt das Recht" lieferte er den Mördern des sog. Röhm-Putsches nicht nur die Rechtfertigung des übergesetzlichen Staatsnotstandes, sondern erklärte, die Tat des Führers sei in Wahrheit echte Gerichtsbarkeit gewesen. Sie unterstehe per se nicht der Justiz, sondern sei selbst höchste Justiz. Theodor Maunz, Ernst-Rudolf Huber, Ulrich Scheuner, Ernst Forsthoff - die Liste prominenter Hochschullehrer, auf die sich die Nazis berufen konnten, ist lang. Karl Larenz sprach den Juden in Deutschland die Rechtsfähigkeit und damit die bürgerliche Existenz ab mit dem Satz "Rechtsgenosse ist nur, wer Volksgenosse ist; Volksgenosse ist, wer deutschen Blutes ist."
Verwundert es angesichts dieser intellektuellen Wegbereiter, daß Richter, im Geiste des deutschen Untertanen, wie ihn Heinrich Mann in seinem berühmten Roman beschreibt, erzogen und ausgebildet, das Gesetz fraglos anwandten?
Hans von Dohnanyi wurde am 6. April 1945 im KZ Sachsenhausen von einem SS-Standgericht auf Befehl Hitlers zum Tode verurteilt und hingerichtet. Am 9. April wurden Admiral Canaris, General Oster, Heereschefrichter Dr. Sack, Pastor Dietrich Bonhoeffer und Hauptmann Gehre im KZ Flossenburg ebenfalls von einem SS-Standgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet. Vorsitzender des SS-Standgerichts war Dr. Thorbeck, Ankläger war Walter Huppenkothen. Selbst nach damals geltendem Gesetz verstießen die Verfahren in schwerwiegendster Weise gegen formelles und materielles Recht. So war z.B. das SS-Standgericht für die Angeklagten, die nicht SS-Mitglieder waren, überhaupt nicht zuständig, das Gericht war mit dem KZ-Lagerkommandanten als Beisitzer nicht ordnungsgemäß besetzt, Verteidiger waren nicht bestellt, Protokollführer gab es nicht, die Angeklagten waren offenkundig gefoltert worden, die Beweismittel entsprachen nicht den Vorschriften. Deshalb wurden Huppenkothen und Thorbeck nach dem Ende des Nazi-Regimes u.a. wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Der Bundesgerichtshof war dreimal mit diesem Verfahren befaßt. In den ersten beiden Urteilen hob er die jeweiligen Freisprüche des Schwurgerichts auf und wies in beeindruckender Weise darauf hin, daß Gesetze, die die Gerechtigkeit nicht einmal anstreben und allen Kulturvölkern gemeinsame Rechtsüberzeugungen von Wert und Würde der menschlichen Persönlichkeit gröblich mißachten, kein Recht schaffen, und ein solchen Gesetzen entsprechendes Verhalten Unrecht bleibt.
Nachdem hierauf die Angeklagten im dritten Durchgang wegen Beihilfe zum Mord zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt worden waren, änderte der Bundesgerichtshof seine Auffassung grundlegend, hob 1956 diese Verurteilungen auf und sprach die Angeklagten von dem Vorwurf frei, durch die Standgerichtsverfahren Beihilfe zum Mord geleistet zu haben. In der Begründung behandelte der Bundesgerichtshof das SS-Standgericht als ordnungsgemäßes Gericht, das offenkundige Scheinverfahren als ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren und das Urteil als dem damaligen Recht entsprechend. Die Begründung ist ein Schlag ins Gesicht. Den Widerstandskämpfer wird attestiert, sie hätten "nach den damals geltenden und in ihrer rechtlichen Wirksamkeit an sich nicht bestreitbaren Gesetze" Landes- und Hochverrat begangen. Den SS-Richtern könne nicht zum Vorwurf gemacht werden, daß sie die Frage der Rechtfertigung des Verhaltens, der Angeklagten nicht geprüft hätten.
Damit wandte sich der Bundesgerichtshof explizit von der "Radbruchschen Formel" ab, nach der das positive Recht nicht anzuwenden ist, wenn es in so unerträglichem Maße der Gerechtigkeit widerspricht, "daß das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen hat."
Im Ergebnis ließ der Bundesgerichtshof allerdings die Verurteilung Huppenkothens wegen Beihilfe zum Mord an Bonhoeffer, Canaris, Oste, Sack und Gehse allerdings bestehen, und zwar nicht wegen der Verhängung der Todesurteile, sondern weil er an der Vollstreckung dieser Urteile mitgewirkt hatte, ohne die notwendige Bestätigung des Urteils durch den "obersten Gerichtsherrn" einzuholen. Dies macht das Urteil nicht besser, sondern eher noch schlimmer.
Dies gilt umso mehr, als Huppenkothen trotz seiner unstreitigen Beteiligung auch an der Vollstreckung des Todesurteils gegen von Dohnanyi selbst insoweit mangels Beweises freigesprochen wurde, da ungeklärt geblieben sei, ob auch dieses Urteil ohne die erforderliche Bestätigung durch den "Gerichtsherrn" vollstreckt wurde.
Für dieses Urteil des Bundesgerichtshofs, an dem im übrigen ein Richter mitgewirkt hat, der im Dritten Reich Beisitzer eines Sondergerichts und später Oberkriegsgerichtsrat war, muß man sich schämen. Ich sage dies ausdrücklich an Sie gerichtet, die Angehörigen der Familien von Dohnanyi, Bonhoeffer, Goerdeler und der übrigen Opfer der vom Bundesgerichtshof ungesühnt gelassenen Justizmorde.
Die Folgen dieses Urteils waren verheerend. Kein einziger Richter, kein Staatsanwalt wurde in der Bundesrepublik wegen der tausendfachen Justizverbrechen im Dritten Reich verurteilt. Nachdem 1968 schließlich auch die Verurteilung des Richters Rehse, der zusammen mit Roland Freisler im Volksgerichtshof an dutzenden von Todesurteilen gegen Widerstandskämpfer mitgewirkt hatte, aufgehoben wurde, stellten die Staatsanwaltschaften alle Ermittlungen gegen ehemalige Richter ein.
Dieses Versagen der Nachkriegsjustiz ist ein dunkles Kapitel in der deutschen Justizgeschichte und wird dies bleiben.
Der Bundesgerichtshof wurde mit der Unfähigkeit der Nachkriegs-Justiz, NS-Justizunrecht zu sühnen, erneut konfrontiert, als das Verhalten von Richtern in der ehemaligen DDR strafrechtlich zu bewerten war. Nach dem Fall der Mauer standen deutsche Gerichte zum zweiten Mal binnen einiger Jahrzehnte vor dem Problem, das Verhalten von Richtern als Handlanger totalitärer Regime justiziell aufzuarbeiten. Auch wenn diese beiden Unrechtssysteme nicht gleichgesetzt werden können, bleibt doch festzuhalten, daß es in der ehemaligen DDR schätzungsweise 150.000 bis 200.000 politische Strafverfahren und 60 oder 70 politisch motivierte vollstreckte Todesurteile gab.
In dieser Situation wurde die Justiz nicht nur ihrer Verantwortung zur Aufarbeitung von Justizunrecht gerecht, der Bundesgerichtshof ergriff auch diese historische Gelegenheit, um sich von seiner eigenen Rechtsprechung, insbesondere von dem verhängnisvollen dritten Dohnanyi-Urteil mit deutlichen Worten zu distanzieren. Dies wird häufig vergessen, wenn die Rolle der deutschen Justiz bei der Aufarbeitung von Justizunrecht kritisch gewürdigt wird.
Wegen ihrer Bedeutung will ich die wesentliche Aussage des Urteils des 5. Strafsenats, der ausdrücklich von einer insgesamt fehlgeschlagenen Auseinandersetzung mit der NS-Justiz spricht, wörtlich zitieren:
"Die nationalsozialistische Gewaltherrschaft hatte eine "Perversion der Rechtsordnung" bewirkt, wie sie schlimmer kaum vorstellbar war, und die damalige Rechtsprechung ist angesichts exzessiver Verhängung von Todesstrafen nicht zu Unrecht oft als "Blutjustiz" bezeichnet worden. Obwohl die Korrumpierung von Justizangehörigen durch die Machthaber des NS-Regimes offenkundig war, haben sich bei der strafrechtlichen Verfolgung des NS-Unrechts auf diesem Gebiet erhebliche Schwierigkeiten ergeben. Die vom Volksgerichtshof gefällten Todesurteile sind ungesühnt geblieben, keiner der am Volksgerichtshof tätigen Berufsrichter und Staatsanwälte wurde wegen Rechtsbeugung verurteilt; ebensowenig Richter der Sondergerichte und der Kriegsgerichte. Einen wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hatte nicht zuletzt die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Diese Rechtsprechung ist auf erhebliche Kritik gestoßen, die der Senat als berechtigt erachtet."
Die Feststellung des Bundesgerichtshofs, daß die Widerstandskämpfer um von Dohnanyi nicht durch ein ordnungsgemäßes Gericht in einem rechtmäßigen Verfahren wegen Hochverrats zum Tode verurteilt, sondern Opfer eines Justizmordes wurden, war eine späte Rehabilitierung der Opfer durch den Bundesgerichtshof und mag Ihnen, den Angehörigen zeigen, daß die deutsche Richterschaft wieder zurückgefunden hat zu der Lehre Radbruchs, daß es ein höheres Recht als das geschriebene gibt.
Man darf die Geschichte nicht vergessen, aber man darf sich auch nicht zum Gefangenen der Geschichte machen. Daß die deutsche Justiz in den 50er und 60er Jahren, wie fast alle gesellschaftlichen und politischen Kräfte, nicht bereit war, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, ist eine geschichtliche Tatsache, aber auch Mahnung für uns Richter heute.
Die Justiz ist ein Spiegel der Gesellschaft, aber die Richter müssen mehr sein, als nur Reflektoren gesellschaftlicher Stereotypen oder politischer Vorgaben. Der Bundesgerichtshof nimmt den hundertsten Geburtstag von Hans von Dohnanyi bewußt zum Anlaß, sich der dunklen Seite seiner Geschichte zu stellen, um seine Verantwortung in der Gegenwart zu betonen. Um dieser gerecht werden zu können, braucht die Justiz Richter, die sich den verfaßten Leitbildern der Gesellschaft verpflichtet fühlen, verfaßt im Grundgesetz, aber auch in ethischen Parametern. Nicht von ungefähr ist der Richter nach dem Grundgesetz nicht nur an das Gesetz gebunden, sondern an Gesetz und Recht. So wie eine Kathedrale mehr ist als die Summe ihrer Steine ist das Recht mehr als die Summe der Paragraphen. Es ist die Idee des Rechts, die Ambition der Gerechtigkeit, die Gesetze legitimiert und den Rechtsspruch adelt.
Eine hierauf verpflichtete Rechtsprechung braucht hierauf verpflichtete Richter. Schon der Anschein - mag er auch falsch sein -, daß Richter ausgewählt und befördert werden nach anderen Kriterien als der fachlichen Kompetenz und ihrer rechtsstaatlichen Integrität untergräbt das Vertrauen in die Dritte Gewalt. Parteizugehörigkeit darf kein Kriterium bei Personalentscheidungen über Richter sein. Außerdem muß zur parlamentarischen Verantwortung derjenigen, die die Personalhoheit über Richter haben, Transparenz des Entscheidungsverfahrens hinzutreten.
Lassen Sie mich meine Ausführungen schließen, indem ich zitiere, was Golo Mann über das Vergessen und Verdrängen der Männer und Frauen des Widerstandes, der "echten Elite" Deutschlands, in der Nachkriegszeit geschrieben hat:
"So hat man sie zweimal ignoriert und vergessen.... Die Gleichgültigkeit der Nation erwürgte die Lebenden und vergaß die Toten. In dem sie den Versuch machten, den Sinn, die Kontinuität und die Ehre der deutschen Geschichte zu retten, was alles nicht mehr gerettet werden konnte, gehören auch sie einer abgeschlossenen Vergangenheit an und ist ihr Ruhm vor Gott viel höher als jener, den eine wohlmeinende Obrigkeit ihnen vor der Nachwelt zu fristen sich müht."
Der Bundesgerichtshof will mit dieser Veranstaltung dem Vergessen entgegenwirken.
Wir, die Richterinnen und Richter des Bundesgerichtshofs, verneigen uns vor dem ehemaligen Richter am Reichsgericht und Widerstandskämpfer Hans von Dohnanyi und vor allen, die Opfer der Justiz wurden. Wir empfinden ihr Schicksal und unsere Geschichte als Verpflichtung, die Schwachen zu schützen und das Recht zu verteidigen.
Mein Dank gilt Ihnen allen, meine Damen und Herren, für Ihr Kommen. Insbesondere die Angehörigen, die Söhne, Töchter, Enkelkinder der Familien von Dohnanyi, Bonhoeffer, Goerdeler haben mit ihrer Anwesenheit dem Bundesgerichtshof hohe Ehre erwiesen.