Justiz im Dritten Reich und die Aufarbeitung von Justizunrecht
Ansprache des Präsidenten des Bundesgerichtshofes Prof. Dr. Günter Hirsch bei der Sonderveranstaltung der Münchener Juristischen Gesellschaft während der Ausstellung „Justiz und Nationalsozialismus“ am 29. September 2004
Die Geschichte eines Volkes, Höhen und Tiefen, Stärke und Schwäche des Staates, Blühen und Niedergang der Kultur ist immer auch die Geschichte des Rechts und der Rechtsprechung. Dies ist nicht weiter verwunderlich, werden doch Gesetze von Menschen gemacht, angewendet und ausgelegt, und diese unterliegen dem Zeitgeist. Ausnahmen bestätigen diese Regel.
Die Richterschaft im Dritten Reich bestand ganz überwiegend aus "biederen Juristen aus der Kaiserzeit", um Golo Mann zu zitieren. Der Schritt vom Deutschnationalen zum Nationalsozialistischen fiel vielen nicht besonders schwer. Die Mehrheit der Richter beugte nicht das Recht, aber viele beugten sich einem formellen Recht, auch wenn es materiell Unrecht war. Die Gefährlichkeit des Unrechtsstaates liegt ja nicht so sehr darin, dass er Richter frontal veranlasst, das Recht zu brechen, sondern darin, dass er Unrecht in Gesetzesform gießt und darauf setzt, dass Richter nicht mehr nach dem Recht fragen, wenn sie ein Gesetz zur Hand haben. Mit dem Ermächtigungsgesetz und mit Notverordnungen wurde die Weimarer Republik legalistisch zerstört; der Weg zum Terror war mit Gesetzen gepflastert.
Letzte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Regimes wurden bei vielen beseitigt durch führende Vertreter der Rechtswissenschaft. Erwähnt sei der angesehene Staatsrechtslehrer Carl Schmitt, der zum Totengräber der Weimarer Verfassung und zum "Kronjuristen des Dritten Reiches" wurde. Mit seinem Aufsatz "Der Führer schützt das Recht" lieferte er den Mördern des sog. Röhm-Putsches nicht nur die Rechtfertigung des übergesetzlichen Staatsnotstandes, sondern erklärte, die Tat des Führers sei in Wahrheit echte Gerichtsbarkeit gewesen. Sie unterstehe per se nicht der Justiz, sondern sei selbst höchste Justiz. Theodor Maunz, Ernst-Rudolf Huber, Ulrich Scheuner, Ernst Forsthoff - die Liste prominenter Hochschullehrer, auf die sich die Nazis berufen konnten, ist lang. Karl Larenz sprach den Juden in Deutschland etwa die Rechtsfähigkeit und damit die bürgerliche Existenz ab mit dem Satz "Rechtsgenosse ist nur, wer Volksgenosse ist; Volksgenosse ist, wer deutschen Blutes ist."
Verwundert es angesichts dieser intellektuellen Wegbereiter, dass Richter, im Geiste des deutschen Untertanen, wie ihn Heinrich Mann in seinem berühmten Roman beschreibt, erzogen und ausgebildet, das Gesetz fraglos anwandten und sich, als Deutschland in der Barbarei des Dritten Reiches versank, dem nicht, jedenfalls nicht eindeutig entgegenstellten? Die meisten Richter versuchten jedoch durchaus, wenn auch in wachsendem Maße vergeblich, rechtsstaatliche Standards aufrecht zu erhalten. Die "völkische Rechtserneuerung" blieb in ihren Wirkungen weitgehend eine akademische Angelegenheit, wenn auch die den Gerichten gegebenen Leitsätze (etwa dahingehend, Generalklauseln "aus dem Geist des Nationalsozialismus" auszulegen) nicht ohne Wirkung blieben.
Allein schon die Gründung von Sondergerichten, insbesondere des Volksgerichtshofs - den ein "Gericht" zu nennen, man sich weigern möchte - belegt, dass die Machthaber die "ordentliche" Gerichtsbarkeit für nicht geeignet hielten, ideologisch geprägtes Strafrecht ausreichend durchzusetzen. Erst diese Sondergerichte, die sich weitgehend von verfahrensrechtlichen Garantien lösen konnten, waren das geeignete gerichtliche Terrorinstrument des Nazi-Regimes. Befasst man sich mit der Justiz im Dritten Reich, sollte man deutlich trennen zwischen den Sondergerichten, die willige Werkzeuge der verbrecherischen Nazi-Ideologie waren, und den "ordentlichen" Gerichten, die weitgehend versuchten, unpolitisch zu agieren.
Die Sondergerichte waren durch Verordnung gegründet und für immer mehr Straftaten für zuständig erklärt worden. Sie entschieden in erster und letzter Instanz in beschleunigten Verfahren, die rechtsstaatlichen Grundsätzen Hohn sprachen. Ihre Urteile waren eine wesentliche Stütze des staatlichen Terrorsystems. Auf ihr Konto gehen 30.000 vollstreckte Todesurteile in den Jahren 1933 bis 1945.
Aber auch "ordentliche" Gerichte bis hin zum Reichsgericht machten Konzessionen an das Regime – z. T. wohl in dem Wunsch, Schlimmeres zu verhüten. Am Ende wurde die moralische Distanz zwischen dem, was das Reichsgericht verhüten wollte, und dem, was es dafür in Kauf nahm, immer geringer.
Die Geschichte der Justiz im Dritten Reich ist die Geschichte ihrer Anpassung und ihrer immer stärkeren Ausschaltung: erst bei den Straftaten der SA, dann bei den Morden der Röhm-Aktion vom 30. Juni 1934, schließlich bei der sogenannten Euthanasie-Aktion von 1939 bis 1941, wo das Ziel des damaligen Justizministers Gürtner schon nicht mehr die Verhinderung, sondern die "Verrechtlichung" der Ermordung geistig Behinderter war.
Für die wenigen Gerechten unter den deutschen Juristen, die mutig versuchten, gegen diese Untaten vorzugehen, steht der Vormundschaftsrichter am Amtsgericht Brandenburg Lothar Kreyßig, der, als er feststellte, dass seine Mündel im Zuge der Euthanasieaktion systematisch umgebracht wurden, Strafanzeige gegen den Chef der Reichskanzlei, Philipp Bouhler, wegen Mordes erstattete. Kreyßig wurde erstaunlicherweise ohne weitere Sanktionen nur in den Ruhestand versetzt.
Welche Möglichkeiten hat die Dritte Gewalt überhaupt in Unrechtssystemen, wo liegen nach den Erfahrungen mit der Nazi-Diktatur die Grenzen richterlichen Widerstandes in etablierten Systemen, die das Recht von innen her pervertieren?
Der offene Aufstand eines Gerichts gegen die herrschende Anschauung der totalitären Machthaber hätte zumindest die sofortige Amtsenthebung der betroffenen Richter zur Folge gehabt. Die Richter in etablierten Systemen totalitärer Machtansprüche, die dem System ablehnend gegenüberstehen, haben also nur die Wahl, entweder ihre Ablehnung zu tarnen und sich im Rahmen einer formal angepassten Judikatur verdeckte Freiräume gegenläufiger richterlicher Eigenwertung vorzubehalten oder aber den Dienst zu quittieren. Man muss sich klar machen, dass keiner dieser beiden Wege den Bestand eines bereits bestehenden totalitären Regimes gefährdet. Hierauf hat Bernd Rüthers in seinem beeindruckenden Werk "Entartetes Recht: Rechtslehrer und Kronjuristen im Dritten Reich" überzeugend hingewiesen. Diese Erkenntnis war sicherlich auch der Hauptgrund dafür, dass die Mehrheit der deutschen Richter auf die zunehmende Erosion des Rechtsstaates mit resignierender Professionalität reagierte.
Welchen Einfluss konnte die Justiz überhaupt im NS-Staat haben, in dem SS und Geheime Staatspolizei Unterdrückungssysteme außerhalb jeder Kontrolle aufbauten, willkürlich verhafteten und folterten, die "organisierte außernormative Gewalt" sich also immer mehr ausbreitete? Der Justiz gelang weder die "Verrechtlichung" der Schutzhaft noch eine Einflussnahme auf die Konzentrationslager - nach langem Hin und Her zwischen 1933 und 1938 wurden die Konzentrationslager gegenüber der Justiz faktisch exterritorial. Strafurteile konnten durch polizeiliche Exekutionen "korrigiert" werden, wenn sie nicht im Sinne der SS ausfielen. Schon 1933 wurde von Göring die "polizeiliche Vorbeugungshaft" eingeführt, deren gesetzliche Regelung die Justiz niemals erreichen konnte.
Als z.B. die Gerichte dazu übergingen, die von der Gestapo verhängte Schutzhaft wie die Untersuchungshaft auf eine gerichtlich erkannte Strafe anzurechnen, wurde dies vom Gestapochef Heydrich damit konterkariert, dass er plötzlich erklärte, dass sich bestimmte Staatsfeinde nicht in Schutzhaft, sondern in Schulungshaft befänden, die man natürlich nicht auf die Strafhaft anrechnen könne, da durch Schulungshaft "Menschenmaterial bei geeigneter Anleitung und Schulung wieder in den Volkskörper eingereiht" werde.
In einer Verordnung zum Reichsbürgergesetz wurden schließlich die jüdischen Mitbürger mit einem Federstrich dem Schutz der Gerichte entzogen mit der lapidaren Bestimmung: "Strafbare Handlungen von Juden werden durch die Polizei geahndet." Kurzum - es entstand neben dem Normenstaat der Maßnahmenstaat im Sinne Ernst Fraenkels.
Es gibt die These, der vor 1932 herrschende Rechtspositivismus, der die damalige Juristengeneration geprägt hat, habe sie zu willigen Werkzeugen der Nazis gemacht. Richter, die zum bedingungslosen Gehorsam gegenüber dem Buchstaben des Gesetzes erzogen seien und im jeweiligen Gesetzgeber die höchste Autorität sehen, seien eben unfähig, gesellschaftliche und politische Fehlentwicklungen kritisch zu begegnen. Höheres, ungeschriebenes Recht - nennen wir es "Naturrecht" oder "ethische Imperative" - seien für sie nicht konkret operabel.
Dies ist richtig und falsch zugleich. Richtig, weil der Rechtspositivismus in seiner starren Ausprägung in der Tat die Richter darauf beschränkt, Mund des Gesetzgebers zu sein - so wie es sich Montesquieu gewünscht hat, der die Dritte Gewalt als eigenständige Gewalt für inexistent ("en quelque facon nul") erklärt hat; sie solle, ausgehend von einer strikten Trennung der Staatsgewalten, nicht mehr sein als "la bouche, qui prononce les paroles de la loi". Montesquieu wünschte sich als Richter "Wesen ohne Seelen, die weder die Stärke noch die Strenge des Gesetzes mäßigen können."
Andererseits aber war der Rechtspositivismus vielfach das einzige, hinter dem sich der Widerstand der Justiz gegen nationalsozialistisches Unrecht zeitweise erfolgreich verschanzen konnte (Gruchmann). Der Buchstabe des Gesetzes sprach eben häufig zugunsten Verfolgter und ermöglichte den Richtern, politischen Wünschen zu widerstehen. Dies erkannte auch die Führung und betrieb insbesondere im Strafrecht einen massiven normativen Abbau der Rechtsstaatlichkeit. Die wohl wichtigsten Schritte sind die Aufhebung des Rückwirkungsverbots schon nach dem Reichstagsbrand 1933, die Aufhebung des Analogieverbots 1935 und schließlich die endgültige Wendung vom Schuld- zum Täterstrafrecht nach Kriegsausbruch. Ein von der Strafrechtskommission des Justizministeriums ausgearbeiteter Strafrechtsentwurf, der durchaus noch herkömmlichen Rechtsstaatsprinzipien verhaftet war, scheiterte 1939 an Hitler persönlich, der sich nicht durch ein Gesetzbuch binden lassen wollte.
Auch eine neue Strafprozessordnung kam nicht zustande; nicht zuletzt aufgrund einer Stellungnahme Carl Schmitts vom September 1936, der an Stelle des Kollegialsystems das Führerprinzip in der Gerichtsverfassung einführen wollte und überhaupt Berufung und Revision durch eine Nachprüfung politischer Instanzen, d.h. durch Beauftragte des Führers, ersetzen wollte.
Schließlich noch ein Wort zur Lenkung der Rechtsprechung. Auch hier gab es eine Entwicklung zu immer stärkerer Aushöhlung des Rechtsstaates, obwohl formell das Prinzip sachlicher Unabhängigkeit des Richters niemals außer Kraft gesetzt wurde. Es gab aber "Empfehlungen" des Ministeriums an die Richter und den indirekten Druck auf sie durch den weisungsgebundenen Staatsanwalt. Allerdings vermied Gürtner noch die direkte Einwirkung auf den Richter vor der Entscheidung durch den dienstvorgesetzten Präsidenten, was erst unter Gürtners Nachfolger Reichsjustizminister Thierack erfolgte. Dieser nahm mit seinen berüchtigten "Richterbriefen" direkt Einfluss auf die Rechtsprechung.
Als Resumee kann festgestellt werden, dass das Reichsjustizministerium ziemlich widerstandslos rechtsstaatliche Positionen räumte. Dies kann exemplarisch an der juristischen Behandlung des Reichstagsbrandes gezeigt werden. Die Nazi-Machthaber wollten eine Verurteilung des holländischen Kommunisten van der Lubbe sowie vier weiterer Kommunisten, um den Reichstagsbrand als kommunistischen Umsturzversuch erscheinen zu lassen. Deshalb wurde eine Verordnung zum Schutz von Volk und Staat erlassen, die für Brandstiftung und Terrorakte die Todesstrafe vorschrieb.
Das Reichsjustizministerium, insbesondere Staatssekretär Schlegelberger, wies mit allem Nachdruck darauf hin, dass der in der Reichsverfassung verankerte Grundsatz "nulla poena sine lege" einer rückwirkenden Anwendung dieser Strafnorm entgegenstünde. Als Innenminister Frick im Auftrag Hitlers auf Rückwirkung bestand, gab Schlegelberger nach und verordnete auf der Grundlage des Ermächtigungsgesetzes, dass die Verordnung zum Schutz von Volk und Staat auch für vor ihrem Erlass begangene Straftaten gelte.
Van der Lubbe wurde zum Tode verurteilt, die vier mit angeklagten Kommunisten wurden jedoch vom Reichsgericht frei gesprochen. Daraufhin wurde dem Reichsgericht die Zuständigkeit für solche Straftaten entzogen und dem Volksgerichtshof übertragen.
Dieses Zurückweichen des Justizministeriums wirkte wie ein Dammbruch. Minister Gürtner und Staatssekretär Schlegelberger blieben im Amt, waren jedoch faktisch entmachtet. Mit der Übernahme des Justizministeriums durch Otto Thierack 1942 wurde die Unabhängigkeit der Justiz dann auch sichtbar in der Person des Ministers beseitigt.
Am Anfang dieser Entwicklung mag der verhängnisvolle Irrtum gestanden haben, dass das Gedeihen der Nation in der gegebenen Situation am besten durch einen autoritären Staat gewährleistet werden könne, und dass zum Erreichen dieses Zieles die Rechtsstaatlichkeit "vorübergehend" missachtet werden könne, ohne Recht und Gerechtigkeit auf Dauer zu zerstören. Dies war vielleicht der verhängnisvollste Fehler derer, die sich als "deutsch-nationale Patrioten" verstanden, letztlich aber nichts anderes waren als Steigbügelhalter der Nazis.
Sie verstanden nicht, dass das Recht wie die Freiheit in Zentimetern stirbt. Wird nicht den Anfängen gewehrt, gibt es später kein Halten mehr.
Im Gesamtkontext der Justiz im Dritten Reich kann die Anwaltschaft nicht unerwähnt bleiben. Es war das zentrale Anliegen der Naziideologie, die anwaltliche Selbstverwaltung zu zerschlagen und jüdische Berufsangehörige aus dem Berufsstand zu entfernen. Dies gelang ohne größere Gegenwehr der Anwaltschaft. Als Folge einzelner "spontaner" Aktionen erhielten jüdische Rechtsanwälte schon 1933 Hausverbote seitens der Justizverwaltung, die sie faktisch von der Berufsausübung ausschlossen.
Das kurz darauf ergehende Gesetz vom 7. April 1933 ermöglichte, die Zulassung nichtarischer Rechtsanwälte - wie in 1500 Fällen geschehen - zurückzunehmen (§ 1 Abs. 1); es gewährte Bewerbern keinen Anspruch auf Zulassung mehr (§ 2) und schloss ohne weiteres Personen aus, die sich kommunistisch betätigt haben (§ 3). Diese unbestimmte Wendung ließ etwa offen, ob bereits die freiwillige Übernahme der Verteidigung von Kommunisten genügte - wie Freisler, damals Staatssekretär im Preußischen Justizministerium im Gegensatz zum Reichsjustizminister Gürtner meinte; der Ausschlussgrund veranlasste zahllose Denunziationen und als weitere demoralisierende Auswirkung eine Proskriptionsliste der Rechtsanwaltskammer Berlin, in der bekannte Namen wie Max Alsberg, Hans Litten, Arthur Brandt, aber z.B. auch Hilde Benjamin auftauchten. Seit 1933 wurden praktisch auch keine Frauen mehr zum Anwaltsberuf zugelassen.
Zwar wurde beteuert, dass die wegen ihres Alters oder als Frontkämpfer privilegierten jüdischen Anwälte ihren Anspruch auf die Achtung behalten sollten, die ihnen als Angehörigen ihrer Standesgemeinschaft zukam. Ungeachtet dieser Beteuerung wurde die Tendenz, sie völlig auszuschließen, jedoch nicht aufgegeben. Eine Ausführungsverordnung in Preußen unterstellte bereits, eine Partei erwarte im Armenrecht die Beiordnung eines arischen Anwalts. Der bei der Reichsrechtsanwaltskammer neu gebildete und ihrem Einfluss unterworfene Ehrengerichtshof versuchte, konsequent jeden jüdischen Einfluss auszuschalten. Er ahndete z.B. "zersetzende Kritik an Vorgängen des staatlichen Lebens" durch einen jüdischen Anwalt mit dem Ausschluss, ebenso als weiteres Beispiel bei einem arischen Anwalt die Heirat mit einer Jüdin. Im nationalsozialistischen Doppelstaat von staatlicher und parteimäßiger Organisation gestattete zudem die Parteizugehörigkeit eines Rechtsanwalts, die bloße Übernahme eines von der Partei unerwünschten Mandats parteigerichtlich zu ahnden.
1938 wurde dann den verbliebenen jüdischen Anwälten die Zulassung definitiv entzogen.
Die Zahl der Anwälte in Deutschland verringerte sich von 20.000 im Jahre 1933 vornehmlich durch das Ausscheiden von 4.400 jüdischen Anwälten auf 15.000 im Jahre 1939. Viele der arischen Kollegen hatten hiergegen schon deshalb nichts einzuwenden, weil dadurch Konkurrenz verschwand.
Wir, die Juristen von heute, die wir die Perversion der Rechtsordnung weder in ihrem theoretischen Konzept noch in ihrer praktischen Durchführung aus eigener Anschauung kennen, können nicht begreifen, wie ein Rechts- und Kulturstaat einer totalitären Staatsdoktrin und einer dumpfen Rassenideologie erliegen konnte, wir können nur versuchen, zu verstehen, warum dem Recht verpflichtete Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte und Beamte offensichtlich ihr Rechtsgefühl unterdrücken oder völlig ausschalten konnten.
Wie nun ist die Nachkriegsjustiz mit den Justizverbrechen der Nazizeit umgegangen. Ich möchte dies exemplarisch am Fall Dohnanyi aufzeigen. Hans von Dohnanyi, Opfer einer Willkürjustiz, steht für das Versagen der Nachkriegsjustiz bei der Aufarbeitung von Justizunrecht, aber auch für ihr Bemühen, dies zu korrigieren und der Geschichte gerecht zu werden.
Hans von Dohnanyi war Richter am Reichsgericht, dem Gericht, in dessen Tradition sich der Bundesgerichtshof von Anfang an gesehen hat. Er wurde von Verbrechern, die sich Richter nannten, ermordet. Die Täter wurden letztendlich durch ein Urteil des Bundesgerichtshofes 1956 von diesem Justizmord freigesprochen mit einer Begründung, die zur Folge hatte, dass kaum einer der Richter, die während der Nazi-Herrschaft 30.000 Todesurteile gefällte hatten, zur Rechenschaft gezogen wurde. Von diesem Dohnanyi-Urteil hat sich der Bundesgerichtshof 1995 ausdrücklich distanziert in einem Verfahren, in dem es um Justizunrecht in der ehemaligen DDR ging.
Hans von Dohnanyi wurde am 6. April 1945 im KZ Sachsenhausen von einem SS-Standgericht auf Befehl Hitlers zum Tode verurteilt und hingerichtet. Am 9. April wurden Admiral Canaris, General Oster, Heereschefrichter Dr. Sack, Pastor Dietrich Bonhoeffer und Hauptmann Gehre im KZ Flossenburg ebenfalls von einem SS-Standgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet. Vorsitzender des SS-Standgerichts war Dr. Thorbeck, Ankläger war Walter Huppenkothen.
Selbst nach damals geltendem Gesetz verstießen die Verfahren in schwerwiegendster Weise gegen formelles und materielles Recht. So war z.B. das SS-Standgericht für die Angeklagten, die nicht SS-Mitglieder waren, überhaupt nicht zuständig, das Gericht war mit dem KZ-Lagerkommandanten als Beisitzer nicht ordnungsgemäß besetzt, Verteidiger waren nicht bestellt, Protokollführer gab es nicht, die Angeklagten waren offenkundig gefoltert worden, die Beweismittel entsprachen nicht den Vorschriften. Deshalb wurden Huppenkothen und Thorbeck nach dem Ende des Nazi-Regimes u.a. wegen Beihilfe zum Mord angeklagt.
Der Bundesgerichtshof war dreimal mit diesem Verfahren befasst. In den ersten beiden Urteilen hob er die jeweiligen Freisprüche des Schwurgerichts auf und wies in beeindruckender Weise darauf hin, dass Gesetze, die die Gerechtigkeit nicht einmal anstreben und allen Kulturvölkern gemeinsame Rechtsüberzeugungen von Wert und Würde der menschlichen Persönlichkeit gröblich missachten, kein Recht schaffen, und ein solchen Gesetzen entsprechendes Verhalten Unrecht bleibt.
Nachdem hierauf die Angeklagten im dritten Durchgang wegen Beihilfe zum Mord zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt worden waren, änderte der Bundesgerichtshof seine Auffassung grundlegend, hob 1956 diese Verurteilungen auf und sprach die Angeklagten von dem Vorwurf frei, durch die Standgerichtsverfahren Beihilfe zum Mord geleistet zu haben. In der Begründung behandelte der Bundesgerichtshof das SS-Standgericht als ordnungsgemäßes Gericht, das offenkundige Scheinverfahren als ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren und das Urteil als dem damaligen Recht entsprechend. Die Begründung ist ein Schlag ins Gesicht. Den Widerstandskämpfer wird attestiert, sie hätten "nach den damals geltenden und in ihrer rechtlichen Wirksamkeit an sich nicht bestreitbaren Gesetzen" Landes- und Hochverrat begangen. Den SS-Richtern könne nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass sie die Frage der Rechtfertigung des Verhaltens, der Angeklagten nicht geprüft hätten.
Damit wandte sich der Bundesgerichtshof explizit von der "Radbruchschen Formel" ab, nach der das positive Recht nicht anzuwenden ist, wenn es in so unerträglichem Maße der Gerechtigkeit widerspricht, "dass das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen hat."
Im Ergebnis ließ der Bundesgerichtshof allerdings die Verurteilung Huppenkothens wegen Beihilfe zum Mord an Bonhoeffer, Canaris, Oste, Sack und Gehse bestehen, und zwar nicht wegen der Verhängung der Todesurteile, sondern weil er an der Vollstreckung dieser Urteile mitgewirkt hatte, ohne die notwendige Bestätigung des Urteils durch den "obersten Gerichtsherrn" einzuholen. Dies macht das Urteil nicht besser, sondern eher noch schlimmer.
Dies gilt umso mehr, als Huppenkothen trotz seiner unstreitigen Beteiligung auch an der Vollstreckung des Todesurteils gegen von Dohnanyi selbst insoweit mangels Beweises freigesprochen wurde, da ungeklärt geblieben sei, ob auch dieses Urteil ohne die erforderliche Bestätigung durch den "Gerichtsherrn" vollstreckt wurde.
Ich stehe nicht an, als Präsident des Bundesgerichtshofs zu sagen, dass ich mich für dieses Urteil schäme.
Die Folgen dieses Urteils waren verheerend. Richter und Staatsanwälte, die an den tausendfachen Justizverbrechen im Dritten Reich beteiligt waren, blieben fast völlig von Strafverfolgung verschont - Richterprivileg, Beratungsgeheimnis, formaler Rechtsgehorsam waren die rechtlichen Instrumente, auf die sich die Justiz stützte. Nachdem 1968 schließlich auch die Verurteilung des Richters Rehse, der zusammen mit Roland Freisler im Volksgerichtshof an Dutzenden von Todesurteilen gegen Widerstandskämpfer mitgewirkt hatte, aufgehoben wurde, stellten die Staatsanwaltschaften alle Ermittlungen gegen ehemalige Richter ein.
Dieses Versagen der Nachkriegsjustiz ist ein dunkles Kapitel in der deutschen Justizgeschichte und wird dies bleiben. Diese Ausstellung hier im Münchner Justizpalast ist deshalb so wichtig, um zu widerlegen, was Golo Mann über das Vergessen und Verdrängen der Männer und Frauen des Widerstandes, der "echten Elite" Deutschlands, in der Nachkriegszeit geschrieben hat:
"So hat man sie zweimal ignoriert und vergessen.... Die Gleichgültigkeit der Nation erwürgte die Lebenden und vergaß die Toten."
Der Bundesgerichtshof wurde mit der Unfähigkeit der Nachkriegs-Justiz, NS-Justizunrecht zu sühnen, erneut konfrontiert, als das Verhalten von Richtern in der ehemaligen DDR strafrechtlich zu bewerten war. Nach dem Fall der Mauer standen deutsche Gerichte zum zweiten Mal binnen einiger Jahrzehnte vor dem Problem, das Verhalten von Richtern als Handlanger totalitärer Regime justiziell aufzuarbeiten. Auch wenn diese beiden Unrechtssysteme nicht gleichgesetzt werden können, bleibt doch festzuhalten, dass es in der ehemaligen DDR schätzungsweise 150.000 bis 200.000 politische Strafverfahren und ca. 60 bis 70 politisch motivierte vollstreckte Todesurteile gab.
In dieser Situation wurde die Justiz nicht nur ihrer Verantwortung zur Aufarbeitung von Justizunrecht gerecht, der Bundesgerichtshof ergriff auch diese historische Gelegenheit, um sich von seiner eigenen Rechtsprechung, insbesondere von dem verhängnisvollen dritten Dohnanyi-Urteil mit deutlichen Worten zu distanzieren. Dies sollte nicht vergessen werden, wenn die Rolle der deutschen Justiz bei der Aufarbeitung von Justizunrecht kritisch gewürdigt wird.
Die Feststellung des Bundesgerichtshofes, dass die Widerstandskämpfer um von Dohnanyi nicht durch ein ordnungsgemäßes Gericht in einem rechtmäßigen Verfahren wegen Hochverrats zum Tode verurteilt, sondern Opfer eines Justizmordes wurden, war eine späte Rehabilitierung der Opfer durch den Bundesgerichtshof und zeigt, dass die deutsche Richterschaft wieder zurückgefunden hat zu der Lehre Radbruchs, dass es ein höheres Recht als das geschriebene gibt.
Lassen Sie mich mit einem Appell schließen:
Man darf die Geschichte nicht vergessen, aber man darf sich auch nicht zum Gefangenen der Geschichte machen. Dass die deutsche Justiz im Dritten Reich dem Unrecht nicht widerstand, zum Teil auch aktiv gedient hat und dass sie in den 50er und 60er Jahren, wie fast alle gesellschaftlichen und politischen Kräfte, nicht bereit war, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, ist eine geschichtliche Tatsache, aber auch Mahnung für uns Richter heute.
Die Justiz ist ein Spiegel der Gesellschaft, aber die Richter müssen mehr sein, als nur Reflektoren gesellschaftlicher Stereotypen oder politischer Vorgaben. Die Justiz braucht Richter, die sich den verfassten Leitbildern der Gesellschaft verpflichtet fühlen, verfasst im Grundgesetz, aber auch in ethischen Parametern. Nicht von ungefähr ist der Richter nach dem Grundgesetz nicht nur an das Gesetz gebunden, sondern an Gesetz und Recht. Es ist die Idee des Rechts, die Ambition der Gerechtigkeit, die Gesetze legitimiert und dem Rechtsspruch ethische Autorität gibt.